Berichte 01.07. – 15.07.2022

1.7.2022

 Heute früh überquere ich den Mississippi. Sofort kommt mir tom Sawyer in den Sinn. Und tatsächlich ist der erste Mensch, den ich hier antreffe, grade daran, Gartenzaun und Haus zu streichen.

Der Mississippi ist ein 3778 Kilometer langer Strom. Er entspringt dem See Itasca  (Minnesota) und fliesst rund 160 Kilometer südlich von New Orleans in den Golf von Mexiko.

Hier in der Nähe von LaCrosse ist der Strom mehr als 3km breit, jedoch verteilt auf Hauptstrom und zahlreiche Nebenarme.

Es gibt so Unmengen an Inseln, die aber in den letzten Jahren infolge des Hochwassers verschwanden. Und weil das Hochwasser oft während Wochen Höchststände verzeichnete, sind auch viele Bäume und Pflanzen abgestorben. Links und rechts des Stromes ist ein grosses «Driftless Gebiet». Es gibt viele Hügel und Berglein, Höhlen und Höhlensysteme, verschwindende Bäche, blinde Täler, unterirdische Bäche, Dolinen, Quellen und kalte Bäche. Und die zahlreichen «Hügle u Chräche» erinnern stark an das Emmental.

Oftmals werden viele Gebiete denn auch immer wieder überschwemmt und geflutet.

Ich treffe am Mittag auf meine lieben Leute aus Gays Mills, einer ehemaligen Hippie Kommune, jetzt eine Perma Culture Co-op. Und es sind die Gründungsmitglieder fast alle noch vollzählig da. Unglaublich, und alles bleibt in Wandlung und entwickelt sich stetig weiter, seit 1982. Ich war 1983 zum ersten Mal da.

Sofort geht’s an eine Wohltätigkeits Party, diesmal in Gays Mills, sondern in Soldiers Grove. In diesem Örtchen ist auch der erste Solar Ort Amerikas, schon im Jahr 1978 war diese Solar Town unabhängig vom Stromnetz. 1983 kam ich aus dem Staunen fast nicht mehr heraus – sogar die Telefonzellen funktionierten ausschliesslich mit Solar Strom.

So vieles zur Rettung unseres Planeten wäre doch so viel früher schon möglich gewesen.

Übrigens etwas schmerzhaft stelle ich an der Party fest: Auch Hippies sind halt merklich älter geworden. Doch tröstend bleibt die Feststellung, dass der zuversichtliche und friedliche Geist noch derselbe ist.

 

2.7.2022

Wir besuchen einen Markt unweit von da. Es gibt da auch Amische Leute. Sie kleiden sich wie vor hundert Jahren, verzichten auf technische Entwicklungen, besitzen weder eigene Telefone noch Autos.  Die Siedlungen sind auch nicht am Stromnetz angeschlossen, man benutzt Petrollampen.

Die Felder werden mit Pferden gepflügt, gereist wird in Kutschen und die Frauen halten ihre Haare stets bedeckt und dürfen zumeist nur bis zur 8. Klasse zur Schule.

Die Amischen sprechen eine Art deutsche Sprache, und es ist eindrücklich, wie ich mit einer Berndeutsch/schriftdeutschen Mischung mit ihnen plaudern kann.

Sie sind «in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt», und sind damit immer wieder gefordet, welche modernen Bequemlichkeiten weltlich gesinnt sind und welche nicht. Ich habe beobachtet, wie die Jungs in einem Schwimmbad baden durften, die Mädchen hingegen in längsten Röcken am Ufer standen und zuschauten. Wenigsten haben sie sich ein Ice Cream kaufen dürfen.

 

3.7.2022

Wir schwimmen im Mississippi, an einem Sandstrand. Dort sind wir nicht ganz die einzigen, denn es ist Sonntag un der Montag zudem der Bundesfeiertag. Auto neben Auto, und Grill und Streifenbanner und laute Musik…

Im Anschluss gibt’s einen Hike zu Sandsteinhöhlen. Da sind kaum Menschen,  Der «durchschnittliche US Amerikaner» geht meist nur da hin, wo man mit dem Auto hinfahren kann.

 

4.7.2022

Bei Felix und Catherina zum Essen eingeladen. Felix hat Geissen und stellt Geiss- und Schafkäse her – und kommt natürlich aus der Schweiz. Den Käse verkauft er zumeist auf einem Markt in Madison. Am Samstag werde ich da hinfahren.

Nur ganz kurz schauen wir uns das Feuerwerk an. Die meisten die ich hier kenne, sind nicht ganz besonders stolz auf die amerikanische Entwicklungen der jüngeren Geschichte.

 

5.7.2022

Alle sind heute am Arbeiten, denn nur mit den Einnahmen der Co-op Farm könnten wohl nicht mal die Landsteuern gedeckt werden. So arbeitet Ilana zum Beispiel als Physiotherapeutin in einem nahen Spital, Richard in einem Cooperative Shop. Lumar für die Buchhaltung verschiedener Non-Profit Organisation, und so weiter… Ja, und die Leute hier alle sind sehr bescheiden, gehen achtsam untereinander und mit der Natur um – und sie sind glücklich. Sie wohnen aufgeteilt in verschiedenen Häusern, eher familienweise.

Zudem ist die Gegend hier traumhaft und tut der Seele gut. Seit jeher wird hier nur biologisch angebaut. Viele Teile werden der Natur überlassen, es sieht sich an wie eine unendliche Parklandschaft.

Zum Frühstück geht man erstmal die verschiedensten Beeren sammeln. Gemüse, Früchte und Kartoffeln stammen ausschliesslich vom eigenen Land.

Die Dancing Waters Permaculture Co-op,  verfügt über 56 Hektaren (0.56qkm). Und besteht aus 8 festen Mitgliedern, 4 davon sind Gründer der Cooperation.

 

6.7.2022

Langes überraschendes Krachen: Es hört sich an wie ein Salve der roten kleinen Kracher am 1. August. Ein Ast eines über hundert Jahre alten Cotton Wood Baumes ist gerissen und zu Boden gefallen. Der Ast selber hat den Durchmesser einer mittleren Tanne. Offenbar haben dem alten Baum die andauernden Regenfälle, die grosse Luftfeuchtigkeit zu schaffen gemacht.

Der Schaden an umliegenden Bäumen ist gross, der kleine Weg zu den Apfel Plantagen versperrt. Wir arbeiten lange, um das herumliegende Holz aus dem Weg zu räumen.

 

7.7.2022

Wir geniessen ein Bad und schwimmen in Barbaras Salzwasser Pool in ihrem eigenen Park. Es ist offenbar eine Zweitresidenz, das Ehepaar kommt aus Florida. Eine Anlage in dieser Grösse, mit zwei Häusern, Gartenhaus, Swimming Pool und riesigem Bioteich, einem Tierpark und zahlreichen Bäumen und Blumen kann sich in der Schweiz wohl ein Tennisstar nur knapp leisten. Alles sieht sehr gepflegt aus, sie haben ja auch einen Gärtner angestellt. Beide sind aber schwer und unheilbar krank, deshalb mutet die alles dominierende Eisenplastik, welche den Tod als Segessenmann darstellt, etwas sonderbar an… auch wenn mittlerweile Vögel unter der Haube nisten.

 

8.7.2022

Heute haben mich die Ordensschwester im nahen Kloster St. Francis Hermitage etwas festgenagelt. Zwar nicht am Kruzifix, aber eben doch…

Die Ordensschwestern der Fraternité Notre Dame sind allesamt aus Frankreich und betreiben ein namhaftes Restaurant mit Kiosk, sehr edel, nobel auch, aber mit fairen Preisen. Und es gibt eben nicht nur Croissant, sondern bestes Essen. Es gibt auch einen riesigen Biohof.

Das Werk dieser Schwestern beeindruckt mich, Ora et Labora, an vielen Orten eben auch in den USA betreuen sie die Armen und Kranken. Und die Einnahmen aus der Bio Produktionen und dem Restaurant kommen der Organisation zugute.

Und weil ich mit diesen Leuten französisch spreche, sind bald alle an meiner Reise sehr interessiert. Und es gibt ein Interview, das gefilmt wird. Und ganz zuletzt erlaubt der Obere, dass zwei der Schwestern sich mit mir zusammen ablichten dürfen.

 

9.7.2022

Madison ist eine Perle. Oder eben, wie einer mir auf dem Markt gesagt hat: «Madison is like a bubble of hope in a piece of shit». Und hoffen wir nun, dass diese Bubble nicht platzt. Hier leben fröhliche und friedliche Menschen, die Stadt lebt, es mutet viel sehr kreativ und weltoffen an, Trump Anhänger sind nicht willkommen und man findet den sonst republikanisch geprägten Staat Wisconsin mühsam.

Ich besuche einen Bauernmarkt, überall dominieren Organic Food Plakate, ich decke mich mit Gemüse und Käse ein. Käse verkauft Felix, der Schweizer aus dem Gebiet Gays Mills.

Um das Capitol (sieht dem von Washington schon ziemlich ähnlich) gibt es heute und morgen eine Künstler Ausstellung. Ich kann mich fast nicht satt sehen.

 

10.7.2022

Ausgiebig frühstücken, etwas an diesen Berichten schreiben (leider kein Internet, um diese auch aufzuschalten) und dann ab nach New Glarus. Dort werde ich versuchen, jemanden mit einem schweizerisch anmutenden Namen zu finden. Damit ich in meiner Portraitsammlung weiterfahren kann.

In New Glarus sind schweizerische Werte zu erkennen, man liebt hier das Rasenmähen, Bambis stehen in den Gärtchen und Plastik Kühe an den Strassenrändern, und irgendwo steht gar: Uli der Paechter wohnt hier…

Und es erfassen mich heimatliche Gefühle. Es gibt gutes Bier, eine supergute ortseigene Brauerei, New Glarus Brewing… Sogar Obama soll das Bier kennen.

 

11.7.2022

Ich darf mich mit dem Gemeindpräsidenten Roger Truttmann treffen, das Interview durchführen und Aufnahmen machen. Er ist in New Glarus geboren und hat Vorfahren, die aus der Innerschweiz ausgewandert sind.

Später werde ich von ihm in Chuck Biglers Taverne zu einem Bier eingeladen. Wahrlich gut, das Glarner Bier von hier.

Und bevor ich New Glarus verlasse, kaufe ich in der Metzgerei Hösli Landjäger und Cervelas.

Auch in der benachbarten Stadt Monroe sieht es ähnlich aus. Bei Zgraggens kaufe ich Käse ein und esse am Abend bei Baumgartners. Viele weitere Geschäfte tragen Schilder mit bekannten Namen: Anderegg, Galli, Luchsinger, Wenger… und es gibt offenbar sogar eine Swiss Colony. Ist doch Monroe die Käsehauptstadt in den USA.

Am Abend miete ich mich in einem günstigen Campingplatz am Mississippi ein.

 

12.7.2022

Es wird fast 11 Uhr, bis ich losfahre. Ich nehme alles ein wenig gemütlich. Und hier am Fluss gefällt es mir morgens besser, als gestern Abend. Es hat keine Mücken mehr.

Ich fahre dann mehr oder weniger dem Mississippi entlang, und irgendwann fahre ich über die Mark Twain Memorial Bridge, dann über die Mark Twain Avenue zum Mark Twain Geburtshaus. Gegenüber gibt’s ein Mark Twain Hotel… Hier in Hannibal lebt es sich offenbar von Mark Twain und Paddel Wheelers.

Später suche ich mir flussabwärts ein «hilbes» Schlafplätzchen. Und während ich diese Zeilen hier schreibe, schleicht sich ein hundegrosses Tier zu meinem Tisch, ohne mich wahrzunehmen. Als ich das Tier berndeutsch anspreche, erschrickt es und schaut mich kurz wie ein maskierter Gangster an, und «täselet hurti» davon. Es ist ein Racoon. Wohl der Rocky Racoon – ein wenig dumm vielleicht.

Die Waschbären sind hier nicht sehr beliebt, ich finde sie einfach süss. Aber offenbar können sie bei den Farmen ziemlich zerstörerisch wirken.

 

 

13.7.2022

Mein Reiseverhalten hat sich vorübergehend wieder etwas geändert. Ich jumpe von Ziel zu Ziel, und sogar bisweilen auf den grossen Freeways. So komme ich voran. Doch die Autobahnen sind für das Kamel (welches?) nicht selten eine Herausforderung – denn oft sind diese 8-spurig. Irgendwann fahre ich durch St. Louis am Mississippi – der Arch ist arg imposant. Und trotzdem reizt es mich nicht, mich da hochliften zu lassen. Es gäbe auch Stunt-Versuche. Die werden doppelt gebüsst, einmal weil sie ein nationales Denkmal besteigen, und zum zweiten das in einem Nationalpark tun.

 

 

14.7.2022

Ein erstes Mal schlafe ich etwas mit unsicherem Gefühl im Kamel. Es ist eher vielleicht gar Angst. Morgens um die 3 fahren zwei Autos heran, je links und rechts eines. Ich rieche Zigarettenrauch und höre unverständliches, lautes Englisch. Ich luge durch das Moskitonetz, die Autos sehen etwas mitgenommen und zerbeult aus. Die Autobahnraststätte ist sehr grosszügig gebaut, mit sauberen Toilettenräumen, Tischen und Bänken in niedlichen Pavillons. Aber jetzt stehen weit und breit keine anderen Fahrzeuge. Wow, bin ich froh, als diese doch dann plötzlich wieder verschwinden. Doch an einen guten Schlaf ist kaum mehr zu denken, da kommen mir all die Waffen in den Sinn, die in diesem Land kursieren. Hmm, ich beschliesse, jetzt da im Süden der USA vorläufig auf freies Campen zu verzichten.

Ich bin in Memphis. (übrigens auf einem Campingplatz, haha). Sagenhaft. Diese Stadt hats in sich, sie ist für meine Musikrichtungen in Blues, Soul und Rockn’Roll prägend. Tina turner, B.B.King, Elvis Presley, Aretha Franklin, Isaac Hayes. Und hat nicht gar unser Polo über Memphis gesungen. Das ich da sein darf, ein Highlight. Ich verbringe den Nachmittag in der Stadt und suche nach den Spuren. Und bleibe bis spät abends… Live Musik überall. Und Blues eben.

 

 

15.7.2022

Memphis hat übrigens auch eine sehr traurige Berühmtheit. Hier ist Dr. Martin Luther King ermordet worden. Die Stadt ist geprägt von «Black lives matter» und «I’m a man». Ich bleibe bis am Nachmittag und unterhalte mich mit vielen schwarzen Leuten, unter anderem mit einer liebenswürdigen Familie, die sich in der Nähe Land und ein altes Haus gekauft hat. Sie wollen diesen Bauernhof dazu nützen, um kleinere Kinder aus schwierigen Verhältnissen aufzunehmen.

Am Abend erreiche ich Alabama und halte mich in Wedowee beim Onkel von Jie auf. Da bleibe ich vermutlich ein paar Tage.